«Die Affekte mitteilen – das kann man nur, wenn man das Metier beherrscht»

Tomas Bächli im Gespräch mit Juan Allende-Blin, 10. November 2023

Juan Allende-Blin, geboren 1928 in Santiago di Chile, studierte zunächst bei seinem Onkel Pedro Humberto Allende Saron, später beim Webern-Schüler Fré Focke.

Schon während des Kriegs hatte er den Wunsch, nach Europa zu gehen; 1951 kam er auf Empfehlung von Hermann Scherchen nach Detmold. Im Rahmen der Darmstädter Ferienkurse nahm er Unterricht bei Olivier Messiaen. Von 1954 bis 1957 unterrichtete Allende-Blin als Professor für musikalische Analyse an der Universität von Santiago. 1957 übersiedelte er nach Deutschland und wurde 1962 Mitarbeiter des Norddeutschen Rundfunks in Hamburg. Seit 1971 lebt er als freier Komponist in Essen, bis zu dessen Tod zusammen mit dem Komponisten und Organisten Gerd Zacher.

Wie wurdest du auf die Komponisten aufmerksam, die ins Exil gehen mussten?

Davon hatte ich schon als Kind gehört. Es begann 1940 mit dem ballets Jooss, das war das einzige Ensemble, das als Kollektiv ins Exil gehen musste, weil Kurt Jooss sich nicht von seinen jüdischen Mitarbeitern trennen wollte. Ich war 12 Jahre alt, ich sah damals in Chile das geniale Ballett Der grüne Tisch. Obwohl ich noch ein Kind war, hatte ich durch diese Choreografie begriffen, was ein Krieg bedeutet, diese Bilder bleiben für mich bis heute lebendig. Danach war ich mit Kurt Jooss befreundet. Er hat meinem Partner Gerd Zacher und mir geholfen, in Essen die Wohnung zu finden, in der ich heute noch bin.

Meine Eltern hatten viele Noten, so war etwa das gesamte Klavierwerk von Alexander Skrjabin im Haus und auch Werke von Deutschen, die ins Exil gegangen waren. Davon habe ich als Kind einiges gespielt, Werke von Alexandre Tansman, Erwin Schulhoff, Erich Wolfgang Korngold. Von Korngold spielte ich seine Märchenbilder op. 3 für Klavier; diese Märchenbilder sind feine Stücke, geprägt von einer jüdischen Melancholie. Als Kind spielte ich sie gerne.

Und so kam ich von einem Komponisten zum anderen. Hinten in den Noten war ein Teil des Katalogs abgedruckt, das habe ich gelesen und dann versucht, mir die Noten zu kaufen. In Santiago gab es ein Antiquariat eines Prager Juden, der hatte Werke von Berg, Schönberg und Webern, da ging ich oft hin und habe vieles gekauft.

Wann bist du auf die drei Komponisten Kahn, Herschkowitz und Spinner gestossen?

Ich kann nicht sagen, in welchem Jahr ich welchen Komponisten entdeckt habe, das hat sich seit meiner Kindheit entwickelt. In diesem Buch hier, Introduction à la musique de douze sons von René Leibowitz, geht es neben Arnold Schönberg, Paul Dessau und Ernst Krenek auch um Erich Itor Kahn. Ich konnte zwar keine Noten von ihm bekommen, aber durch dieses Buch wusste ich, wer das war. In Deutschland haben wir dann an den Tagen für Neue Musik in Darmstadt einen jungen Pianisten aus New York kennengelernt, Howard Lebow. Gerd Zacher und ich luden ihn in unsere Essener Wohnung ein. Dort spielte er spontan die Drei Bagatellen von Kahn. Durch diesen jungen Mann kam der Kontakt zu Frida Kahn zustande: Er lud mich nach New York ein, das war 1962 oder 1963, und da lernte ich Frau Kahn kennen.

Ich habe Frida Kahn in meiner Zeit in New York von 1995 bis 1998 ebenfalls kennengelernt, und ich erinnere mich an einen ironischen Satz von ihr: «There is nothing worse than the wife of a dead composer.» Sie war das Gegenbeispiel. Hat sie dir Partituren von Kahn gegeben?

Ja, natürlich. 1987 lud Frida Kahn mich nach New York ein. Ich war ein Monat bei ihr zu Gast und habe alles fotokopiert, was mich von Kahn interessierte. Tagsüber habe ich gesucht, was ich haben wollte, und nach dem Abendessen nahmen wir ein Taxi und fuhren zum Copyshop, der war in New York ja die ganze Nacht auf.

Dann bekam ich von Frida Kahn die Anfrage, ob ich bereit wäre, eine Aufnahme mit Werken von Kahn zu organisieren. Wir haben 1988 eine CD gemacht mit Nänie, einem Stück für Cello und Klavier, das Kahn im Lager Gurs komponiert hatte; im Weiteren die Marienlieder und einige Klavierstücke.

Wie kamen die Konzerte in Deutschland zustande?

Ich organisierte Konzerte mit Exilkomponisten. Wenn man Kahn spielte, sollte man auch Stefan Wolpe ins Programm nehmen, dann auch Schulhoff, und so entstanden Programme, ohne dass ich das von vornherein so geplant hatte.

Gab es ein Interesse für diese Musik?

Leider war das Interesse nicht sehr gross. Ich glaube, das ist ein ganz entscheidender Fehler der Rezeption in Deutschland. Man führte diese Werke meistens nur im November auf, wegen der Pogromnacht von 1938. Das war wie ein Ritual, man musste am 9. und 10. November etwas für die Exilierten machen, und jenseits davon bestand überhaupt kein Interesse. Es gab in der Bundesrepublik ein Ministerium für die Vertriebenen aus dem Osten, aber ein Ministerium für Exilierte gab es nicht, die Traditionen, die sie vertraten, sollten lieber wegbleiben. Das war ein grosser Fehler. Man war nicht bereit, diese Last anzuerkennen, die durch die Vertreibung der Intelligenz aus Deutschland entstanden war. Das rächt sich bis heute. Man muss zu den Juden sehr freundlich sein – aber mehr auch nicht. Das ist alles halbherzig.

Wie bist du auf Leopold Spinner gestossen?

Spinner habe ich viel später kennengelernt. Als erstes hatte ich ein Klavierstück entdeckt, sehr im Stil von Webern, das interessierte mich nicht. Im Frühwerk merkt man diesen Einfluss, er war ja ein Schüler von Webern. Es dauerte einige Zeit, bis ich merkte, was für ein grossartiger Komponist er sein kann.

Was für eine Art von Musik ist das?

Die Werke, die um Schönberg herum entstanden, waren einerseits sehr progressiv. Andererseits jedoch wurde immer auf die Tradition aufmerksam gemacht, aus der diese Werke kamen: Brahms, Mahler, aber auch Mozart und Beethoven. Für Schönberg war die Entdeckung der zwölf Töne eine logische Konsequenz aus der Erfahrung mit alter Musik, das war keine Revolution, die alles zerstören wollte. Das wird oft nicht verstanden.

Die Komponisten, die wir aufgenommen haben, schrieben Lieder. Das war nach dem Krieg keine Selbstverständlichkeit, es gab in der neuen Musik ein grosses Misstrauen gegenüber der Vertonung von Texten. Überdies fehlten durch den Wegfall der Tonalität nun auch illustrative Momente wie Dur und moll.

Man musste eine neue Beziehung zum Text finden: Wie kann man einen Text vertonen ohne die Nuancen von Dur und moll, die oft mit einer fröhlichen oder traurigen Atmosphäre gleichgesetzt werden? Dabei stimmt das schon für Schubert nicht: Die traurigsten Momente seiner Lieder sind in Dur. Ich glaube, Schubert hat eine Rolle gespielt bei der Loslösung von der Dichotomie moll und Dur.

Warum haben diese Komponisten viele Lieder ausgerechnet in der deutschen Sprache komponiert, aus der sie hatten auswandern müssen?

Weil die Wurzeln dieser Kultur sehr tief waren. In Chile habe ich viele Exilanten kennengelernt, die konnten sich nicht trennen von Goethe oder Heine. Es gab Antiquariate, wo sie Romane und Gedichte in deutscher Sprache kaufen konnten, und aus dieser Haltung heraus haben sie auch komponiert.

Gab es auch eine Angst vor dem Verlust dieser Tradition?

Ich glaube schon. Erich Itor Kahn hat im Lyrischen Konzert eine ganz neue Form der Vertonung gefunden, die mit dem Lied kaum etwas zu tun hat. Es ist wie eine Kantate, der Klavierpart ist sehr eigenständig und die Solostimme ebenfalls, also sind es eigentlich zwei Solisten.

Herschkowitz hat mit der Vertonung von Gedichten von Paul Celan auch das Trauma des Holocaust in Musik umgesetzt. Weisst du, wie er auf Celan kam?

Herschkowitz ist der einzige der drei Komponisten, der Celan vertont hat. Celans Sprache ist so radikal, das war für diese Generation nicht ganz einfach zu verstehen. Wie Herschkowitz auf Celan gekommen ist, weiss ich nicht. Vielleicht spielte es eine Rolle, dass sie beide aus Czernowitz kamen. Ich glaube, in der Bukowina gab es eine Art Nationalismus im Kleinformat: Der lebte da, wo ich geboren wurde. Das war für Herschkowitz nicht unwichtig.

Worin besteht für dich die Qualität dieser Musik?

Diese Werke sind gut komponiert, mit einer soliden Basis, die Fundamente stimmen alle, und die Ausführung ist dann entsprechend tief. Es sind komplexe Werke, bei denen die Melodie, die Harmonie, der Rhythmus so komponiert sind, dass das alles eine Einheit bildet und stimmig ist. Die Affekte mitteilen – das kann man nur, wenn man das Metier beherrscht. Das ist genauso wie bei den früheren Komponisten, ob das nun Monteverdi ist oder Josquin de Pres.

Warum sind diese Werke immer noch so unbekannt?

Das liegt an der Politik: erst zwölf Jahre Hitler, und dann kam gar nichts. Nach 1945 wurde kaum etwas für diese Komponisten getan. Und dann gab es richtiggehende Hasstiraden gegen diese Musik, beispielsweise vom Komponisten Werner Egk. Die deutschen Kirchenmusiker hatten eine Aversion gegen alles Jüdische; es ist sowohl ein religiöser als auch ein künstlerischer Antisemitismus. Ihre Werke seien zu intellektuell, die jüdischen Komponisten seien Nachahmer ohne Herz. Diese alte Schablone geistert immer noch herum.

Um gute Musik zu schreiben, muss man denken und komponieren können. Diese schöpferische Energie fehlte den Komponisten, die damals in Deutschland geblieben waren. Als ich 1951 mit einem Schiff aus Buenos Aires in Hamburg ankam, ging ich sehr bald zum Komponistenverband in der Rothenbaumchaussee und fragte, wo ich Werke von Schönberg, Berg, Webern, Paul Dessau und Hanns Eisler hören könnte. Der zuständige Beamte klärte mich darüber auf, dass diese Komponisten in Deutschland niemanden interessieren würden. Die wichtigen Gegenwartskomponisten seien Ernst Gernot Klussmann, Philipp Jarnach und der junge Hans Poser. Wer kennt diese Namen heute noch?

Wenn man sich die Programme von damals anschaut, sieht man: Mit Richard Strauss hört die Musikwelt auf.

Interessierte sich die damalige Avantgarde um Stockhausen oder Boulez für die Komponisten im Exil?

Kaum. Meine Generation hat sich damals auf Anton Webern als Vorbild fixiert. Alle Parameter wurden nach den Kriterien bewertet, wie man die Gedanken Weberns folgerichtig erweitern könnte. Meine Kollegen interessierten sich nicht für andere Komponisten – auch und besonders nicht für jene im Exil, denn diese hätten sich nicht ausreichend von der tonalen Tradition entfernt. Ausserdem musste man intensiv forschen, um an ihre Werke heranzukommen.

Kannten sie Komponisten wie Kahn, Herschkowitz und Spinner überhaupt?

Kahn war tot, die paar Jahre, die er nach 45 noch gelebt hatte, war er unerreichbar in New York und auch dort vor allem als Pianist bekannt. Stefan Wolpe war auch nicht greifbar. Diese Komponisten konnten die Rolle nicht spielen, die gewünscht war: als Gottvater der neuen Musik. Das hätte nur Webern gekonnt, und der lebte aus Versehen nicht mehr.
Es gab allerdings eine Ausnahme: Luigi Nono interessierte sich früh für seinen Schwiegervater Arnold Schönberg und in seinen späteren Jahren für die russischen Futuristen. Auf seinen Wunsch schickte ich ihm viele Partituren von Nikolaj Obouchov, Ivan Wyschnegradsky, Nikolaj Roslawez, Aleksandr Mossolow und andere.

Du hast einen entscheidenden Anteil daran, dass die Exilkomponisten überhaupt noch gespielt werden. Unser Projekt gäbe es ohne dich nicht.

Ja, das ist alles in einem ganz kleinen Kreis geblieben. Wenn du ein bisschen nach links oder nach rechts schaust, ob es noch andere Leute gibt, die sich dafür interessieren, dann kommst du zum Schluss: Das allgemeine Interesse war nicht so stark.

Nach Kriegsende 1945 dauerte es sehr lange, bis unsere Gesellschaft die Shoah wahrnahm. Und das war eine rein politische Wahrnehmung, die Kunst spielte dabei keine fundamentale Rolle. Die ältere Generation hatte zwischen 1933 und 1945 zwar oft gute Wiedergaben deutscher klassischer Musik gehört, aber dazu gehörte keine jüdische Musik. Das hat sich stark eingeprägt: Für die damaligen Hörer gab es keine andere Kunst als die wirklich autorisierte. Und diesen Stempel der Autorität besitzen zeitgenössische Werke bis heute nicht. Werke, die die Grenzen der Tonalität überschreiten, sind für die späteren Generationen Beigaben einer anderen Welt.

Die gelungenen progressiven Kompositionen wurden damals von einer kleinen Gruppe begrüsst, und sie wurden überdies als eine eminent politische Äusserung verstanden. Unsere kleine Gruppe wird aber alt und täglich älter.

Als Pianist spiele ich die Musik von Kahn, aber ich habe auch viel Musik von dir gespielt. Was mir auffällt: Du hast dich seit vielen Jahren sehr für Kahn eingesetzt, aber deine eigene Musik ist radikal anders. Das zeigt schon der Blick in die Noten: Bei dir sind es wenige Ereignisse, bei Kahn sind die Seiten schwarz vor Noten. Gibt es eine Tradition, die von Kahn zu dir geht?

Ich habe mich beim Komponieren ganz bewusst von Komponisten ferngehalten, die ich sehr schätze. Ich wollte eine eigene Sprache entwickeln und nicht kopieren, was andere schon besser gemacht haben.