Probeneindrücke
Wenn man sich lange mit einem Kunstwerk beschäftigt, macht man häufig die Erfahrung, dass sich die Bedeutung dieses Kunstwerks mit der Zeit verändert. Diesen Prozess haben wir, Eva Nievergelt und Tomas Bächli, mit den Liedern von Kahn, Herschkowitz und Spinner bereits während den Proben erlebt.
Während der Aufnahmen haben wir deshalb beide ein Tagebuch geführt. Wir veröffentlichen hier Auszüge aus unseren Notizen.
Proben Februar 2022 in Baden
L. Spinner, op. 25 & E. I. Kahn, Lyrisches Konzert
Probeneindrücke Eva Nievergelt
Die einwöchige Probe im Februar 22 hat sehr viel eröffnet. Es ist sehr eindrücklich, die Werke, die uns nun bereits über mehrere Jahre begleiten, vertiefter und immer wieder aus neuer Perspektive zu erlauschen.
Die Lieder von L. Spinner entpuppen sich als echte Lied-Perlen; in ihnen sind Sprachgestus und musikalische Rhythmisierung sehr fein aufeinander abgestimmt. Das regelmässige Metrum des Gedichts wird auf einen ruhigen musikalischen Puls verteilt, und nur an sorgfältig ausgewählten Stellen wirken kleine Unregelmässigkeiten wie Aufhorcher. So zum Beispiel zu Beginn des ersten Liedes Der schwere Traum, wo die erste Zeile des in Jamben geschriebenen Gedichts «Ich hab die Nacht geträumet» mit einer Viertel-Triolen-Bewegung einsteigt, die eine leichte unregelmässige Wellenbewegung, wie wenn man sanft ans Ufer gespült wird, bewirkt, ein Staunen und Aufhorchen zugleich, ein bewusstes Heranziehen der Aufmerksamkeit für die sorgenvolle Erzählung.
Der regelmässige und ruhig angelegte Puls ermöglicht ein hochdifferenziertes Gewebe von feinen rhythmischen Nuancen zwischen Klavier und Stimme, Gegenbewegungen, Ergänzungen, Ablösungen, Synkopisierungen; es entsteht ein Netz von aufeinander bezogenen und gleichzeitig voneinander losgelösten, frei schwebenden Tönen.
Ich erlebe es als Herausforderung, die teilweise sehr expressive Phrasenführung der Stimme für den durchlässigen Klavierpart nicht erdrückend werden zu lassen. Vermutlich gilt für beide Parts: trotz Feinheit und leiser Dynamik v.a. der Expressivität Ausdruck geben.
Ich bin erstaunt, wie die Lieder trotz Ähnlichkeit der Kompositionsweise sehr unterschiedlichen Charakter in der Umsetzung der Inhalte haben und wie mit kleinen, aber klaren kompositorischen Motiven jedes Lied charakterisiert wird; so z.B. im Septembermorgen das ruhige Einton-Motiv, das die Stille und das Atmosphärische unterstreicht.
In der Arbeit mit den Spinner-Liedern werde ich innerlich ganz still; es ist, als würde ich in einen geschützten, lichtvollen, mit Pastellfarben ausgemalten Raum geführt. Es ist zauberhaft, in diese Tonwelt einzutauchen, die mich fokussiert, zentriert und mir viel entschlossene Zartheit abverlangt.
Bei Kahns Lyrischem Konzert trete ich in einen völlig anderen Raum ein. Hier geht es um Architektur, transparentes Gerüst, windumweht. Ich erlebe Kahns Tonsprachen-Suche als Konstruieren in der Leere. Platonische Körper im leeren Raum schwebend. Das Lyrische Konzert erinnert mich stark an die Kompositionen von J.S. Bach, Gesetzmässigkeiten, die ein geistiges Haus entstehen lassen.
Bei Kahn werde ich den Eindruck nicht los, dass das geistige Gebäude dazu dient, Schwere aufzulösen, zu relativieren. Dadurch, dass, anders als bei Bach, der traditionelle harmonische Bezug vollkommen wegfällt, sich z.B. die Stimme und das Klavier nie auf demselben Ton treffen, ja überhaupt keine Konsonanz stattfindet, auch nicht innerhalb des Klavierparts, entsteht der Eindruck des Vermeidens von Bezügen, und dadurch können auch bestimmte Konnotationen nicht stattfinden. Es ist, als würde man in den Krieg geschickt, um dann irgendwann etwas ratlos um sich zu schauen und sich in einem feindlosen Gebiet wiederzufinden. Die Landschaft ist ähnlich, aber die Bewohner fremd und friedlich.
Kann es sein, dass die Dodekaphonie, als Spiegelung der gesellschaftlichen Veränderungen von Monarchie (auf einen Grundton bezogenes Tonsystem) zu Demokratie (das Intervall, die Beziehung zwischen zwei Tönen, als neue Entität), in ihrer Auswirkung die komplexen Beziehungsvorgänge innerhalb eines hierarchischen Systems auflöst und in Zweier-Beziehungen verwandelt, die wiederum auf noch ganz unbekannte Weise ein neues Ganzes zu bilden versuchen? Das Sprengen der Form von Innen heraus?
Ich ahne hier etwas, was ich aber noch nicht genug fassen kann, um es zu formulieren. Ich weiss einfach, dass es kein Zufall ist, dass gerade in der Zeit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit den grossen Umwälzungen und den beiden grossen Katastrophen der beiden Weltkriege ein so grosser Wandel des Hörens und Komponierens stattfand, der die gesamte Musiktradition in einem Aufwisch in eine neue Dimension katapultierte.
Immer, wenn die Menschheit in einem selbst erschaffenen Abgrund zu versinken droht, wachsen gleichzeitig neue Fähigkeiten, diesen Abgrund zu überwinden, neue Werkzeuge, Potenziale für eine Erneuerung der Menschheitsentwicklung heran. Die Entstehung der neuen Musiksprache gehört mit Sicherheit zu diesen Werkzeugen.
Kahn in seiner Verbindung mit den Duineser Texten von Rilke zu singen, bedeutet für mich, über jegliche Sichtweise der Dinge hinauszuwachsen, in einen Kanal der Offenheit einzutreten, dessen Qualität sich über Hingabe hinaus bewegt, ausserhalb jeglicher Manifestation von Wille oder Nicht-Wille; nur Leere der Präsenz und Transzendenz.
Kahns Werk hat eine gewaltige Schubkraft. Es geht um tiefste Transformation. Das Heben von Eingegrabenem, Eingraviertem. Mir scheint, diese Musik, wie auch die Wahl der Texte dafür, gleichen einem Schutzanzug, zur Herauslösung von kontaminierten Stoffen. Es geht dabei nicht ums Analysieren oder Zuordnen derselben, sondern einzig um die Transformation, Neutralisation.
Warum mir dieses Bild kommt, ist schwer zu erklären; es fühlt sich so an.
Probeneindrücke Tomas Bächli
Tonhöhen wahrnehmen
Mit einer Sängerin zu arbeiten bedeutet, nicht nur Rhythmen, sondern auch Tonhöhen zu koordinieren. Das ist kein Problem, sondern ein Glück. In der neuen Musik ist nichts langweiliger als Musiker, die nur aus Pflichtgefühl die richtigen Töne spielen. Hier sind wir aufeinander angewiesen: Wenn ich wichtige Stichnoten verfehle, bringe ich Eva in Schwierigkeiten. So muss ich Tonhöhen aushören, immer wieder. Da ich nicht in der Lage bin, alle Töne durch Lesen zu erfassen, muss ich sie mir merken, sie in mein Gehör einbringen. Ich habe im Verlauf dieser Woche mit Schrecken festgestellt, dass ich bei den Liedern von Leopold Spinner nicht einmal die Tonhöhen der jeweils ersten Takte im Kopf habe, und ich habe mich sofort darangemacht, diesen Mangel zu beheben.
Diese Musik ist nicht atonal sondern übertonal: Alle Kombinationen sind möglich, nichts ist ausgeschlossen, so kommen in beiden Kompositionen auch Dur- und Molldreiklänge vor. Wenn aber die Singstimme dazukommt, also aus Dreiklängen Vierklänge und aus Sechsklängen Siebenklänge werden, ändert sich mein Hörempfinden fundamental. Das kann bei mir zur völligen Desorientierung führen, und ich muss wieder von vorne beginnen, auch wenn ich mir beim Üben die Singstimme vorzustellen versucht habe.
Doch das ist nicht nur eine Schwierigkeit, sondern auch Chance.
Intervalle müssen genau gehört werden, sonst wird die Musik zur blossen Geste. Eine absteigende Sept ist eben etwas Anderes als eine absteigende Sext und muss eben auch anders gespielt werden; für die Sängerin ist das selbstverständlich, für den Pianisten nicht. Spannung und Entspannung gibt es auch hier. Da aber bei dieser Musik Dissonanzen nicht mehr in Konsonanzen aufgelöst werden müssen, fehlt diese einfache Orientierung. Die Harmonik dieser Werke müssen wir durch Hören selbst herausfinden.
Die Zwölftonreihen zu kennen, mit denen diese Werke komponiert wurden, ist eine Hilfe, wenn es darum geht, Lese- und Schreibfehler zu erkennen, ansonsten trägt es zum Verständnis der Werke wenig bei. Interessant ist allenfalls eine Beobachtung: alles was durch die Reihe bestimmt wird, nämlich eine gleichbleibende Folge von Intervallen, horizontal oder vertikal, kann vom blossen Hören kaum wahrgenommen werden, sobald sich Rhythmus und Gestik verändern.
Stimmführung
Im Gegensatz zum Stil der Nachkriegsavantgarde sind diese Werke in linear verlaufenden Stimmen gedacht, das heisst, auch der Klaviersatz verläuft in mehreren selbständigen Linien. Der Interpret sollte das so gut wie möglich darstellen, sollte er es selbst hören. Das ist bei den vielen Stimmkreuzungen nicht einfach. Gerade im ersten Takt von Das verlassene Mägdlein bringt Spinner zwei entgegensetzte Gesten, die sich kreuzen, und von denen eine sich noch verzweigt. Insgesamt nur sechs Noten, ganz leicht zu spielen, aber schwer darzustellen.
In der 5. Variation des Lyrischen Konzerts gibt es eine komplizierte Fuge, zu der sich die Singstimme scheinbar wie auf einem anderen Planeten bewegt. Das geht an die Grenzen des Fassungsvermögens der Hörerinnen. Ich musste meine tiefe Abneigung gegen die Praxis revidieren, bei Fugen das Thema hervorzuheben. Das Stück wäre sonst komplett unverständlich.
Metrik
Auch in dieser Hinsicht hält diese Musik an der Tradition fest. Der erste Schlag eines Taktes sollte als Orientierungpunkt wahrnehmbar sein. Auch das ist nicht einfach darzustellen, denn die Metrik wird aufgeweicht: durch Synkopen, synkopierte Einsätze, verschobene Triolen, verschobene Akzente.
Trotzdem: Das verlassene Mägdlein hat den Charakter eines langsamen Walzers. Das Lied Schönheit ist eher eine Sarabande.
Sprache
Sowohl Leopold Spinner als auch Erich Itor Kahn hielten an der klassischen Idee der Liedvertonung fest: Sprache und Musik sollen zu einer Einheit zusammenfinden. Zum Beginn unserer Probenarbeit steht allerdings eher der Klang der Sprache im Zentrum. Eva empfiehlt mir, die Worte übungshalber mitzusprechen, denn jeder Konsonant hat seinen eigenen Einschwingvorgang und prägt damit auch das Timing der Musik.
Was die Bedeutung der Worte für die Musik betrifft: Bei Spinner ist mir die Umsetzung klar, sie ist nicht banal, aber doch einsichtig. Bei Kahn ist es schwieriger, das liegt auch an der Komplexität der Duineser Elegien. Da sind wir (ich mindestens) noch nicht so weit. Ohnehin stecken wir noch sehr in den Details, von denen es in dieser Musik so viele gibt. Der Blick auf die grösseren Zusammenhänge wird sich noch ergeben, denke ich.
Kanonisierung
Zuletzt noch eine Erinnerung an unsere Probewoche: am Ende der Woche probten wir für eine Veranstaltung zusätzlich noch ein Stück des Komponisten Leo Collin, der auch an der Aufführung mitwirkte. Da wurde uns plötzlich klar, wie viel Fragen eine Partitur trotz sorgfältiger Notation offenlässt und wie froh man dann um den Kontakt mit dem Komponisten ist. Bei Kahn und bei Spinner müssen wir diese Fragen selbst beantworten. Da diese Werke äusserst selten gespielt werden, fehlen uns auch die Aufführungstraditionen, die beim kanonisierten klassisch-romantischen Standartrepertoire allgegenwärtig sind. Auch das ist eine Chance für uns: ein freier Zugang, der uns bei den Klassikern der Liedliteratur verwehrt ist.
Nachtrag (Anfang März 2022)
Am 24. Februar 2022 ist der Krieg nach Europa zurückgekehrt, und ich merke, wie sehr ich in den 90er Jahren den Krieg im ehemaligen Jugoslawien verdrängt habe. Diesmal ist es anders: Die Bedingungen für Kunst haben sich für mich verändert. Kunst ist politischer geworden, egal, ob dahinter eine Absicht der Autor:innen steht.
Wenn ich mir die musikalische Untermalung von Videos über den aktuellen Krieg anhöre (von beiden Kriegsparteien), dann wehrt sich etwas in mir. Es ist eine Emotionalisierung auf Rezept, man kann sie getrost an- und abschalten, und mit der Zeit gewöhnt man sich daran: zuerst an die Musik, dann auch an die Bilder des Grauens.
Erich Itor Kahn versuchte unmittelbar nach 1945, mittlerweile in seinem zweiten Exil in New York, die Katastrophen von Nationalsozialismus und Weltkrieg künstlerisch zu erfassen. Sein Lyrisches Konzert ist das Gegenteil von musikalischer Untermalung: Aus der Musik heraus entsteht Sprache, Kahn verwendet dazu Schlüsselsätze aus Rilkes Duineser Elegien. Immer wieder wird die Singstimme durch Klavierpassagen unterbrochen. Die Musik erzählt ihre eigene Geschichte: den Verlust der Orientierung durch die Tonalität. Sie erzählt, wie der Komponist versucht, für die tonalen Funktionen einen Ersatz zu finden. Als ausführender Musiker wird man an dieser Suche beteiligt, indem man anstrebt, den dichten Klaviersatz so zu spielen, dass musikalische Gestalt entsteht und dabei gelegentliche tonale Assoziationen weder zu ignorieren noch affirmativ herauszuposaunen.
Da Kahn selbst ein hervorragender Pianist war, ist mir bewusst, dass hinter seinen gelegentlich massiven Akkordfolgen eine klare Klangvorstellung steht. Im Gegensatz zur Nachkriegsavantgarde hat Kahn nicht nur am Espressivo festgehalten, sondern er hat es radikalisiert, auch dies eine Herausforderung für die Performer. Die musikalische Tradition ist noch präsent, aber bedroht, auch die Metrik ist derart variabel geworden, dass die Eins des Taktanfangs manchmal kaum mehr zu vermitteln ist.
Wie viele Schlüsselwerke des zwanzigsten Jahrhunderts ist Kahns Lyrisches Konzert Fragment geblieben. Nur der erste Satz ist fertig, aber er endet im Nichts: Der Reiterrhythmus des Klaviers verschwindet in der hohen Lage im Pianissimo. Vom zweiten Satz sind keine Noten erhalten. Dass der ausgedehnte dritte Satz abrupt abbricht, vermutlich kurz vor dem geplanten Ende, ist eine unbeabsichtigte Pointe.
Ich bin etwa zwei Jahrzehnte nach der Entstehung des Lyrischen Konzerts geboren, in eine Welt, die nach dem Zusammenbruch von 1945 entstanden und heute wieder in Gefahr ist, in Gewalt zu versinken. Die Disziplin und das Können, mit dem Kahn seine Ratlosigkeit und den Schmerz über seine künstlerische Einsamkeit im Exil in Musik umsetzte, ist mir eine Hilfe. Dass dabei auch einmalige Klänge von Schönheit entstanden sind, ebenfalls.
Proben Juni 2022 in Berlin
E. I. Kahn, Lyrisches Konzert, III Satz, Variationen II bis VI
Probeneindrücke Eva Nievergelt
Die Arbeit an den Variationen II bis VI des Lyrischen Konzerts war äusserst intensiv. Wieder ging es darum, zu HÖREN, zu erfassen, was klingt, wie es zusammenklingt, wie es gemeint ist. Über weite Strecken gelang es uns, in den drei Tagen eine grössere Transparenz zu erreichen. Es bestätigt sich: je klarer wir selbst das Geflecht durchhören, desto durchlässiger wird der Klang und wird es auch für die Zuhörer erfassbarer.
Das Thema der Stabilität beschäftigte uns: Wo liegt die Stabilität, die es uns ermöglicht, uns zu orientieren? Die rhythmische Komponente ist die «verlässlichste», sie knüpft am stärksten an bekannte Parameter an und ist die direkteste Verbindung zwischen Stimme und Klavier. Die Aufgabe, uns bewusst rhythmisch zu stabilisieren, war sehr wichtig; das Tempo dem Hörvermögen anzupassen, führte zu grösserer Ruhe und Leichtigkeit im rhythmischen Fluss.
Variation II: Sie bekommt jetzt mehr Weichheit, Durchlässigkeit, und beginnt zu schwingen.
Variation III: Auch hier bewirkt die Ruhe mehr Durchlässigkeit. Die filigranen Figuren im Klavieranfang werden zu quecksilbrigen Ornamenten im ansonsten erstaunlich dünn gesetzten Klaviersatz; zusammen mit der Singstimme entsteht gleichsam eine barocke vierstimmige Arie. Durch den 12/8 Takt und den Text «Dass mich mein strömendes Antlitz glänzender mache, dass das unscheinbare Weinen blühe» fühlt man sich ganz entfernt an das «Erbarme dich» aus der Matthäuspassion von Bach erinnert.
Variation IV: Das Grave im 3/2 Takt am Anfang gibt den Rahmen für die rhythmische Auffächerung im zweiten Teil. Das Klavier bewegt sich aus der anfänglichen choralartigen Mittellage in immer gespreiztere Lagen und schafft dadurch einen weiten Raum zwischen Kontra-e und e”’, worin sich die Stimme, eingefasst durch Himmel und Erde, in ruhigen Skalen von unten nach oben und wieder zurück bewegt.
Variation V: Die dreistimmige Fuge (vom Einsatz der Singstimme an) bedient sich eines etwas nervös anmutenden Sechzehntel-Rasters, der, wenn klar gehalten und gezügelt, grosse Energie vermittelt. Darüber bewegt sich die Singstimme in grossen Wellen, vollkommen unabhängig und in keinem offensichtlichen Bezug zum Klavier. Mit einem Schlussbouquet von sieben aufeinander folgenden Thema-Einsätzen im Klavier leitet Kahn über zu Variation VI.
Variation VI: Das Klavier als Vorsänger, die Stimme, die imitiert und repetiert. Eine Art Schlusschoral, Schlusschor, Tutti; die einzige Gelegenheit, wo Klavier und Stimme dasselbe vermitteln, Melodie, Rhythmus, Text, die hier das erste Mal in eine ausgeglichene Relation kommen. Die Quintessenz: eine Kulmination des Bedauerns: «Wir, Vergeuder der Schmerzen, wie wir sie absehn voraus in die traurige Dauer, ob sie nicht enden vielleicht».
Gretchenfrage: Auf welchem Thema beruhen die Variationen? Auf dem verlorenen 2. Satz?
* * *
Die Musik und der Gesangspart, der gross, überschwänglich und grossflächig gestaltet ist, zusammen mit der unablässigen Suche während dem Singen, wie Stimme und Klavier zusammen gedacht sind, führen mich in eine Ausweitung und eine Ausdehnung, die nicht immer einfach zu handhaben sind. Es gibt Momente, da erhalte ich den Eindruck, dass Kahn nach einem Durchbruch in die geistige Dimension hinein sucht. Kein einfaches hinüber Spazieren oder Gleiten, sondern ein Ringen um eine neue Form, eine neue Geometrie. Eine Geometrie, die neues (Mensch-)Sein beinhaltet, ermöglicht, es soll neu erstehen können. Es ist aber noch nicht geboren; sondern es geht um den Übergang, das Verwandeln und Transformieren, das Aufgleisen; es ist ein Bardo-Zustand, ein Zwischenzustand, den Kahn hier komponiert.
Zur Transformation gehört das Anerkennen des Gegenwärtigen, dessen, woraus wir kommen, und dessen Verwandlung.
Rilke stellt in seinen Duineser Elegien immer wieder einerseits die Trennung wie auch die zerbrechliche Verbindung zwischen «Diesseitigem» (das gelebte Leben im Sichtbaren) und «Jenseitigem» (die Welt der Engel und der göttlichen und geistigen Kräfte im Unsichtbaren) ins Zentrum: die Suche des Menschen nach dieser Verbindung, die möglich scheint, gleichzeitig auch das Getrenntsein und das Scheitern schmerzlich deutlich macht. Das eine ohne das andere ist nicht möglich, sie bedingen einander. Im Versuch der Hinwendung zum Geistig-Göttlichen zeigt sich die ganze Dimension des Menschlichen, breitet sich aus und wird in allen Schattierungen bewusst.
Die Texte Rilkes geben Kahn den Rahmen, um seine musikalische Vision zu entwickeln. Könnte man sie so umreissen?: eine Klangstruktur und der darin fliessende Klangstrom, die eine neue Seins-Ebene, eine neue Schwingungsebene hervorrufen, die die Verbindung in eine höhere Dimension stärkt und Erneuerung ermöglicht: «Dass ich dereinst an dem Ausgang der grimmigen Einsicht, Jubel und Ruhm aufsinge zustimmenden Engeln.»
Und die gleichzeitig den Zustand von grosser emotionaler und psychischer Arbeit und Verwandlung, durch die wir hindurch gehen, verkörpern: «Dass von den klar geschlagenen Hämmern des Herzens keiner versage an weichen, zweifelnden oder reissenden Saiten. Dass mich mein strömendes Antlitz glänzender mache; dass das unscheinbare Weinen blühe.»
Sowohl Rilke wie Kahn bewegen sich in einem Zwischenzustand, im Bardo, der das Menschsein ausmacht.
Proben und Aufnahmen Februar 2023
Probeneindrücke Eva Nievergelt
Unseren Proben vom 31. Januar bis 2. Februar vor den Aufnahmen gingen zwei Probentage vom 20. – 22. Januar in der Schweiz voraus. Das war wichtig und nötig, zumal ich die November-Proben frühzeitig hatte abbrechen müssen.
Die Rilke-Vertonungen von Leopold Spinner erwiesen sich als schwieriger als der erste Höreindruck aufzeigt. Der Klavierpart arbeitet mit vielen Überkreuzungen der Hände und damit mit unzähligen Schlüsselwechseln, die das Lesen und die motorischen Abläufe sehr kompliziert machen. Da meine Stimme sich mehr und mehr in die Tiefe bewegt, haben wir alle drei Lieder eine kleine Terz tiefer transponiert. Das machte es für mich angenehmer und einfacher, bedeutete aber für Tomas nochmals viel Umlernen.
Während der Proben vor den Aufnahmen kamen – im Zusammenhang mit einem Symposium zu Thomas Harlan, welches wenige Tage zuvor im Brecht-Haus Berlin stattgefunden hatte – einige Male Gespräche zwischen uns auf, die das Vernichtungsgeschehen erneut ins Zentrum rückten, dessen nackte Gewalt mich einmal mehr zutiefst erschütterte. Wieder stellte sich mir die Frage: wie gehen / gingen Menschen, die bedroht waren und fliehen konnten, damit um? Es waren sie, die «gemeint waren». Sie wurden aus jeglichem gesellschaftlichen Zusammenhang herauskatapultiert, und dabei war die Flucht eine notwendige Folge des bereits vorher beschlossenen und umgesetzten Ausschlusses. Und ich fragte mich erneut, wie schon viele Male: wie fühlt sich das an, zu einem Teil der Gesellschaft zu gehören, der nie wirklich und tiefgründig gesellschaftliche Wurzeln entwickeln durfte? Und doch ganz zur Kultur dieser Gesellschaft gehört, sie mitgestaltet, kreiert, belebt und lebt?
Vielleicht zudem beeinflusst durch die momentan vorherrschende aufgewühlte und kontroverse Atmosphäre erreichten mich die schrecklichen Ereignisse von damals noch einmal mit voller Wucht. Die Eisschicht des friedlichen Miteinanders ist dünn, und der menschliche Geist kippt so unendlich schnell in die Abspaltung. Gewalt ist dann unvermeidlich die Konsequenz. Da ich, wenn ich singe, zu einer Art Kanal werde, worin ich Informationen unterschiedlichster Art begegne und diese balanciere, forderte dies alles sehr viel Kraft.
Die Lähmung, immer wieder das Gefühl der Lähmung. V.a. bei der Musik Erich Itor Kahns. Das Gefühl von Ringen um Form, Gehalten-Sein, und gleichzeitig ist da kein Halten, kein Schutz, weder drinnen noch draussen, nirgendwo. Die Tradition ist da, sie ist gültig, sie wurde von allen mitgestaltet. Aber jetzt ist sie nicht mehr bewohnbar.
In der Erfahrung einer so massiven Aggression stirbt die Hoffnung auf Heilung. Heilung würde heissen Lebendigsein, und Lebendigsein würde heissen, dass Heilung und Veränderung möglich sind. Die Abwesenheit von Hoffnung auf Heilung mündet in Lähmung und Resignation.
Beim Lyrischen Konzert von Erich I. Kahn empfinde ich den Ausdruck der inneren Lähmung indirekt in der Wahl der Texte, die Kahn vornahm, wie auch in seiner grossen und weitreichenden Vision, der musikalischen Tradition treu zu bleiben, ohne sie jedoch wirklich neu zu füllen; nicht mehr bewohnbar und doch einst Heimat dient sie als Durchgang in Unbekanntes, Unbewohntes.
Mit den Vier Nocturnes bekam diese Empfindung noch eine andere Dimension. Die drei Sprachen Deutsch, Französisch und Englisch deuten auf Kahns Exilweg mit dem Aufenthalt in Frankreich und dem Ankommen in den USA hin. Die Dunkelheit, die in allen vier Texten angesprochen wird, lässt konkret Erlebtes und Geschehenes erahnen, wird aber neutral und immer etwas auf Abstand gehalten. Emotionale Annäherung geschieht nicht.
Bei Tristan Corbière bleiben die Grüfte stumm und bietet die Aufforderung zu schlafen Schutz vor der Angst. Hans Sahl stützt seine Depression auf das geteilte Leid mit anderen, und J.P. Worlet (Kahn selbst) beschwört den Schlaf als Freund des Vergessens. Die Djinns von Victor Hugo fegen in bilderreicher, märchenhafter Sprache über die nächtlichen Landschaften hinweg und lassen einen verwirrten, aber zumindest unversehrten Zeugen zurück. In der Elegie von Percy Shelley verweilen die Seelen nach dem Sterben im Zwischenreich der Toten, zunächst ohne Hoffnung, Frieden zu finden.
Ich habe den Eindruck, mich in einem Zwischenfeld zu bewegen. Die alte Welt und ihre Bewohner sind gestorben. Die neue Welt und ihre Bewohner sind noch nicht geboren.
Die Rilke-Lieder von Leopold Spinner verkörpern das lähmende Element, welches ich bei E.I. Kahn direkter empfinde, weniger stark. Spinner findet den Raum für die Dimension Rilkes, der Sprachgestus ist unverfälscht, und doch ausgestaltet; es wird kein Text wiederholt. Klavier und Stimme bewegen sich in einem interaktiven Dialog.
Noch freier und wagemutiger geht Spinner bei den Nietzsche-Vertonungen vor. Grosse Intervalle prägen den Gestus beider Instrumente, und dies, ohne den Sprachfluss zu beeinträchtigen oder zu zerdehnen. Auch hier eine direkte und unmittelbare Kommunikation der Instrumente, die Impulse springen rasch und lebendig zwischen beiden hin und her.
Probeneindrücke Tomas Bächli
Immer wieder taucht bei uns in den Proben die Frage auf, ob die Beschäftigung mit dieser Musik an unsere Grenzen geht. Ich bin mir dann nie im Klaren, ob es sich dabei um die üblichen spieltechnischen oder auch musikalischen Probleme geht, oder ob die extreme Situation, in der einige dieser Werke entstanden sind, sich auch in einem emotionalen Druck äussert, der sich dann auch auf die ausführenden Musiker überträgt. Im Prozess des Übens und Probens ist das schwer zu beurteilen, generell hatte ich dabei nicht das Gefühl der emotionalen Überforderung, eher das Gefühl, mich einer Sache auszusetzen. Dass ich die Wirkung eines Kunstwerks auf mich nicht völlig kontrollieren kann, ist bei mir häufig der Fall.
Ich denke, das Lyrische Konzert ist nicht ohne Grund Fragment geblieben, viel hätte zu seiner Fertigstellung nicht gefehlt. Das vermindert mein Interesse an diesem Werk nicht, es ist für mich ein herausragender Versuch, die auseinanderdriftenden musikalischen Energien seiner Zeit zusammenzufügen. Dass es Kahn nicht wirklich gelungen ist, die Tradition zu füllen, wie es Eva in ihrem letzten Beitrag bemerkte, spricht nicht unbedingt gegen die Komposition. Der gelungene oder scheinbar gelungene Versuch, Traditionen wiederherzustellen, endet oft im Kitsch.
Bei den Nocturnes liegt es für mich anders. Der Text von Les Djinns ist ja ein Schauermärchen, und deshalb spüre ich mehr Distanz, auch dort, wo die Musik extrem dramatisch wird. Ich kann mir allerdings auch vorstellen, dass Kahn in diesen Text eine zweite Bedeutung hineinlegte: die Djinns als eine Metapher für Terrorherrschaft. Das Schlaflied ist eher ein Versuch, den emotionalen Druck, den ich bei Kahns Musik gelegentlich spüre, wegzunehmen. Dass das bei Kahn nie so direkt geschieht, dass auch hier die Klavierbegleitung durch viele Stadien hindurchwandert, bis sie sich endlich beruhigt, gehört wohl zu seinem Personalstil.
Bei Leopold Spinner nehme ich diese Übersteigerung weniger wahr. Ich habe hier allerdings auch das Gefühl, dass sich unter der Oberfläche dieser scheinbar so kontrollierten Musik durchaus ungebändigte und unkontrollierbare Elemente verbergen.
Ich bin vorsichtig mit der Behauptung, dass es einen direkten kausalen Einfluss des Exils auf die Kompositionen gibt. Wenn es allerdings um die Entstehung und die Rezeption dieser Werke geht, dann stösst man immer wieder auf die Besonderheiten der Exilsituation. Die Schwierigkeit, überhaupt aufgeführt zu werden, hat Folgen für die Kompositionen: viele Fragmente, kleine Besetzungen, eine Dichte von Ideen auf kleinem Zeitraum, sind auch eine Folge gehetzter und blockierter Lebensumstände.