Stichworte zur Musik
Tomas Bächli
Die Zweite Wiener Schule
Leopold Spinner, Philip Herschkowitz und Erich Itor Kahn werden oft der Zweiten Wiener Schule um Arnold Schönberg, Anton Webern und Alban Berg zugerechnet. Tatsächlich hat Spinner bei Webern studiert, und Herschkowitz bei Webern und Berg. Kahn war zeitweise in einem regen Austausch mit Schönberg, als Pianist hat er Schönbergs Klavierstück 33/a uraufgeführt.
Selbstverständlich war diese Erfahrung prägend für ihr Komponieren. Dennoch darf man sich die Zweite Wiener Schule nicht als einen monolithischen Block vorstellen. Es gab auch Verbindungen zu anderen musikalischen Richtungen, Kahn hat in seinem französischen Exil eine Hommage à Ravel geschrieben. Er hat Victor Hugos Langgedicht Les Djinns vertont, das bereits César Franck und Gabriel Fauré zu Kompositionen animiert hatte. Spinner komponierte ein Orchesterwerk Präludium und Variationen op. 18 zum 80. Geburtstag von Igor Strawinsky, beim Musikverlag Boosey and Hawkes betreute er als Herausgeber Strawinskys Werke.
Atonalität
Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts begannen Schönberg, Webern und Berg Musik zu komponieren, die sich nicht mehr an einem Grundton orientierte. Es war eine Konsequenz aus der Entwicklung der Harmonik am Ende des 19. Jahrhunderts – und zugleich eine der kühnsten Neuerungen in der Musikgeschichte.
Dabei ging es nicht darum, die Tonalität zu verbieten und eine neue Norm zu setzen. Es ging darum, die Möglichkeiten des Komponierens auszuweiten. «Das ist kein Bruch! Das ist im Gegenteil eine Erweiterung der Erkenntnis der Vergangenheit der Musik», so Philip Herschkowitz in einem Interview.
In vielen der hier präsentierten Lieder tauchen Dur- und Moll-Akkorde auf, jene Grundbausteine der europäischen Tonalität, die im 20. Jahrhundert wie Fremdkörper wirken, etwa bei Kahns Schlaflied, bei der III. Variation in Lyrisches Konzert oder beim Lied Schönheit aus Spinners op. 25. Das bedeutet zwar noch keine Tonalität im Sinne eines Bezugssystems, es ist aber ein Hinweis auf eine Verbindung mit der Musik der klassisch-romantischen Epoche. Manchmal hat man dabei das Gefühl, dass darin auch eine Nostalgie mitschwingt, eine Erinnerung an frühere Zeiten.
Wie weit man bei einer Komposition ihre tonalen oder atonalen Anteile wahrnimmt, ist auch eine Entscheidung der Zuhörenden.
Zwölftonmethode
Mit einer Ausnahme sind alle Lieder in einer Technik geschrieben, die Arnold Schönberg als Methode der Komposition mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen bezeichnete. Schönberg sprach also von einer Kompositionsmethode und nicht von einem System, schon gar nicht von einem Stil.
Komponieren ist ein Prozess mit verschiedenen Phasen, und in einem bestimmten Stadium können Techniken wie die Zwölftonmethode hilfreich sein. Bei der Reihentechnik geht es darum, eine Folge aus Tonhöhen zu bilden, und im Falle der Zwölftonreihe sind es die zwölf Halbtöne des chromatischen Totals. Die Tonhöhen für die Komposition gewinnt der Komponierende aus den unendlich vielen Möglichkeiten, diese Reihe aus zwölf Tönen umzuformen. Ob dieser Prozess von den Zuhörenden wahrgenommen werden kann, ist umstritten, und sicher verhält es sich damit von Komposition zu Komposition verschieden.
Die hier vorgestellten Lieder sind ganz traditionell in Phrasen, Melodien, Harmonien komponiert – fürs Zuhören ist das entscheidend.
Die Situation im Exil
Inwiefern war das Exil für ihre Musik bestimmend? Diese Frage sorgt immer wieder für Diskussionen. Leopold Spinner lehnte es vehement ab, dass seine Musik in Konzertreihen aufgeführt wird, die die Exilsituation thematisieren. Eine Aufführung soll aus Interesse an der Musik stattfinden und nicht unter dem Motto der Wiedergutmachung. Das ist verständlich, schliesslich ist es kein künstlerisches Kriterium, von den Nationalsozialisten vertrieben worden zu sein. Selbst unter den schwierigsten Umständen schrieben diese Komponisten weiter Musik. Dies nötigt uns Respekt ab, aber auch das macht ihre Musik weder besser noch schlechter.
Für uns jedoch ist es wichtig, die Exilsituation der Komponisten zur Kenntnis zu nehmen: Sie erklärt, warum diese bedeutende Musik bis heute nicht die Resonanz erfahren hat, die ihr zusteht.
Verhältnis von Sprache und Musik
In der Nachkriegsavantgarde der 50er Jahre erschien es einigen radikalen Vertretern suspekt, überhaupt auf die Bedeutung eines vertonten Textes einzugehen, die Musik sollte sich allein mit seiner akustischen Erscheinungsform beschäftigen. Im Gegensatz dazu beharrten diese drei Komponisten bei ihren Vertonungen auf einer Musik, die auch den Inhalt eines Textes berücksichtigt. Allerdings hat der Wegfall der Tonalität auch zu einem anderen Umgang mit den Worten geführt. Einige effektvolle musikalische Ausdrucksmittel wie der Dur-moll-Gegensatz fallen weg, ebenfalls die Möglichkeit, mit einem Quintfall oder einer Kadenz einen Formteil zu schliessen. Andere Mittel der musikalischen Illustration wiederum wirkten verbraucht und waren fragwürdig geworden.
Die Komponisten mussten also neue Wege finden, Sprache und Musik miteinander zu verbinden. Im ersten der Fünf Lieder nach Friedrich Nietzsche von Leopold Spinner verlässt das Klavier seine traditionelle Rolle. Es unterstützt den Gesangspart nicht mehr, sondern wird im Gegenteil zum Gegenspieler der Sängerin oder auch zu ihrem Schatten. Der Tonsatz ist sparsam, besteht aus Einzelnoten oder Zweiklängen, die die Gesangsstimme imitieren und irritieren. Die «grosse Furcht» von welcher der Text handelt, wird beinahe kabarettistisch in Szene gesetzt.
Im Gedicht Espenbaum hat Paul Celan den Mord an seiner Mutter in Worte gefasst. Hier würde jede falsche Emotionalität zum Kitsch führen. Dem entgeht Herschkowitz, indem er die Fortissimo-Ausbrüche in Singstimme und Klavier auf vordergründig unverfängliche Textzeilen wie «Löwenzahn, so grün ist die Ukraine» legt. Eine Zeile wie «Meiner Mutter Herz ward wund von Blei» dagegen wird auf eine Weise vertont, die zunächst banal wirkt: Man hört pulsierende Repetitionen im Klavier. Doch dann bemerkt man die Doppeldeutigkeit dieser vermeintlichen Illustration: Hören wir die Gewehrschüsse oder den Herzschlag der Mutter? In seiner Musik vermeidet Herschkowitz die Verdopplung des Textes, die diesen nur schwächen würde. Er verschafft Celans Worten durch seine Musik einen Raum, in dem sie wirken können.