Die Klavierlieder von Erich Itor Kahn, Philip Herschkowitz und Leopold Spinner
Ich habe mich immer dagegen gewehrt, dass man die Exilliteratur isolierte. Sie ist kein Sonderfall, sondern Bestandteil der deutschen Literatur.
Hans Sahl, Das Exil im Exil, 1991
Die Ansicht, dass sich relevante Kunst irgendwann von selbst durchsetzt, mag auf lange Sicht richtig sein, für die Zeitspanne eines Menschenlebens ist sie leider falsch. Als Lied-Duo Eva Nievergelt und Tomas Bächli haben wir in den vergangenen Jahren herausragende Kompositionen aufgeführt, die vor über einem halben Jahrhundert entstanden sind. Es handelt sich um Klavierlieder von Erich Itor Kahn, Philip Herschkowitz und Leopold Spinner. Sie werden bis heute viel zu selten gespielt, in einigen Fällen handelte es sich sogar um Uraufführungen.
Ihre Werke entstanden in der Isolation des Exils, denn die drei Komponisten waren vor den Nationalsozialisten nach London, New York und Moskau geflüchtet. Doch auch nach 1945 waren Aufführungen dieser Musik eine Seltenheit, und wenn, dann meist durch Zufälle bestimmt. Auch wir verdanken unsere Beschäftigung mit dieser Musik einer Kette von oft erstaunlichen Zufällen:
Diese Kette beginnt damit, dass Tomas seit seiner Kindheit im Kontakt mit dem chilenischen Komponisten und Musiktheoretiker Juan Allende Blin war. 1927 in Chile geboren, war er in seiner Jugend in regem Kontakt mit den Emigranten, die vor den Nationalsozialisten nach Chile geflohen waren. Als er nach dem Krieg nach Deutschland auswanderte, begann er sich für die Musik der Exilgeneration zu interessieren.
Er schrieb eine Monografie über Erich Itor Kahn, und in den 80er und 90er Jahren organisierte er Konzertreihen mit Werken von Komponisten der Exilgeneration. An diesen Konzerten war Tomas als Pianist beteiligt und kam so mit Erich Itor Kahns Musik in Kontakt.
Als Tomas 1996 für drei Jahre nach New York zog, lernte er dort die über 90jährige Frida Kahn (1905-2002) kennen. Sie war die Witwe von Erich Itor Kahn (1905-1956) und setzte sich nach dem Tod ihres Mannes mit beispielloser Energie für sein Werk ein. Sie organisierte Aufführungen und Ausgaben seiner Werke. Frida und Erich Itor Kahn waren 1933 nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten sofort nach Paris geflüchtet, 1941 gelang ihnen in letzter Sekunde die Flucht nach New York. In New York war Kahn ein gefragter Pianist; dass er auch komponierte, wusste kaum jemand.
Frida Kahn starb 2002, und in ihrem Testament hatte sie ihr bescheidenes Vermögen an alle Musiker verteilt, die Werke von Erich Itor Kahn aufgeführt hatten. Mit der Summe, die Tomas erhielt, organisierte er ein Konzert, in dem er mit Eva die Quatre Nocturnes und das Lyrische Konzert für Singstimme und Klavier aufführte. Das war der Beginn der Auseinandersetzung des Lied-Duos mit Kahns Werk. Der Probenaufwand für dieses erste Konzert war enorm, doch im Durchhören aller melodischen Linien und der Harmonien erschloss sich uns eine ausserordentlich vielschichtige und unvergleichliche Klangwelt. Es war klar, dass wir uns dieser Musik auch in Zukunft widmen würden.
Auf Philip Herschkowitz stiessen wir durch den Komponisten Klaus Linder, der uns damals eine Reihe von Liedern übergab, darunter ein Zyklus von Celan-Vertonungen, die wir 2007 aufführten. Herschkowitz war rumänischer Herkunft, hatte in Wien bei Alban Berg und Anton Webern studiert, bis er vor den Nazionalsozialisten fliehen musste, zunächst nach Moldawien, später bis nach Taschkent. Ab 1946 lebte er isoliert als einziger Vertreter der Wiener Schule in Moskau, wo er sich als Privatlehrer über Wasser hielt; zu seinen Kompositionsschülern gehörten unter anderen Alfred Schnittke und Wassilijewitsch Denissow. Sein Wunsch, wieder nach Wien zurückzukehren, ging erst 1987 in Erfüllung, zwei Jahre vor seinem Tod.
Über Philip Herschkowitz kamen wir durch einen weiteren Zufall auf Leopold Spinner. Wir waren 2017 nach Wien gereist, um uns Herschkowitz‘ Nachlass anzusehen, der in der Wienbibliothek im Rathaus liegt. Dabei begegneten wir einer Gruppe von Musikwissenschaftlern, die ein Symposium über Leopold Spinner planten, darunter der emeritierte Professor Reinhard Kapp und die Musikforscherin Regina Busch. Leopold Spinner war bis 1938 Schüler von Anton Webern, 1939 floh er nach England. Dort war er zuerst Fabrikarbeiter in der Lokomotiv-Produktion («war employment»), später wurde er Cheflektor im Londoner Musikverlag Boosey & Hawkes, wo er unter anderem das Werk von Igor Strawinsky betreute. Sein eigenes kompositorisches Werk wurde zwar bei Boosey & Hawkes verlegt, es blieb jedoch ohne Resonanz.
Komponieren in der Isolation
Erich Itor Kahn, Leopold Spinner und Philip Herschkowitz arbeiteten, jeder für sich, in New York, London und Moskau, an einer Weiterentwicklung der Moderne. Im Gegensatz zu den Vertretern der Nachkriegsavantgarde gaben sie den expressiven Ausdruck in ihrer Musik nicht preis. Dies mag ein Grund dafür sein, dass das Lied in ihrem Schaffen einen zentralen Platz einnimmt, denn die Singstimme bringt den direkten Ausdruck bereits mit. Dem Lied als Träger sprachlicher Information kommt hier eine spezielle Rolle zu, indem Wort und Klang Aussprechliches und Unaussprechliches verbinden.
Die Werke wurden in der neuen Tonsprache komponiert, die Arnold Schönberg und die zweite Wiener Schule entdeckt hatten. Diese war noch nicht etabliert und für den grössten Teil des Konzertpublikums unverständlich und vollkommen fremd. Auf eigentümliche Weise spiegelt sie die Situation des Exils und der Isolation: Einerseits hatte sie sich aus der Tradition der vergangenen Jahrhunderte entwickelt, andererseits verkörperte sie einen radikalen Bruch mit dieser Tradition. Es ist kein Zufall, dass sich die Erweiterung des Tonsystems durch Schönberg in der Zeit der grossen Umwälzungen in Europa zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts ihren Weg bahnte: Die einschneidenden geistigen Veränderungen in der Kunst sind immer auch Ausdruck eines Aufbruchs in der Gesellschaft.
Schönbergs Methode der Komposition mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen erweiterte das Tonsystem und bot Raum für ganz neue kompositorische Kreativität. Die Zwölftonmethode ermöglicht es, beim Komponieren Zusammenhang zu schaffen, ohne sich übergeordneten Prinzipien wie der Tonalität zu unterwerfen. Jeder der drei Komponisten entwickelte die Techniken der Neuen Wienerschule in seiner eigenen Klangsprache weiter.
Im Übergang aus der bekannten in eine unbekannte Ton- und Klang-Rezeption entstand ein unbespielter Raum, und darin auch ein grosses Potential, nicht nur im Umgang mit Tönen, sondern auch im Umgang mit Text und Inhalt. Mit der Wahl der Texte und dem persönlichen Umgang mit der neuen Tonsprache öffnete jeder der drei Komponisten einen eigenen Raum, der weit über die herkömmliche Wort-Klang-Tradition hinausführt.