Erich Itor Kahn (1905 – 1956)

Lyrisches Konzert

aus Duineser Elegien eins und zehn
Rainer Maria Rilke (1875 – 1926)

Kahn wählte für sein Lyrisches Konzert Ausschnitte aus den Duineserelegien eins und zehn von Rainer Maria Rilke. Diese Auswahl betrifft, weil Rilke hier auf eindringliche Art und Weise Worte für subtilste Komplexität der Gefühle findet.

In einem Atemzug das Schöne und das Schreckliche gegenüber zu stellen, braucht Mut. Eine ähnliche Komplexität wird in der zehnten Elegie berührt, wenn Trauer einerseits und Transzendenz andererseits einen Raum umschliessen.

Warum hat Erich Itor Kahn diese beiden Textstellen gewählt? Und wie geht er kompositorisch damit um?

Die besondere Form des Lyrischen Konzerts lässt aufhorchen: Das Stück gleicht einem Klavier-Solowerk mit Gesangseinschüben. Den gesungenen Teilen folgen wortlose, nur durch das Klavier getragene Klangräume. Die dadurch entstehende Grossform kreiert eine dichte Atmosphäre des Nachhorchens, des Nachsinnens.

Kahn lässt die Stimme besonders eindringliche Aussagen mehrfach wiederholen und potenziert dadurch deren Intensität. Er gibt der Stimme und dem Klavier keine einzige Verdoppelung von Tönen; bei durchgehend strenger rhythmischer Koordination treffen sie sich nie in einem Unisono. So sind sie zwar miteinander verknüpft, kommen aber auf seltsame Weise nicht wirklich in Beziehung. Erst im Erlebnis der ganzen Form entsteht ein dritter Raum, der Klavier und Stimme in einem übergeordneten Zusammenhang integriert. In diesem Raum kann das Begreifen jenseits von Schmerz beginnen.

Das Lyrische Konzert ist Fragment geblieben. Der 2. Satz ist verloren gegangen, und der 3. Satz bricht kurz vor Schluss ab.

Schlaflied (1942)

Hans Sahl (1902 – 1993)

Bereits 1942 komponierte Kahn das mit einem Text von Hans Sahl unterlegte Schlaflied, welches er dann mit leicht abgewandelter Klavierbegleitung und eigenem Text für das zweite Lied der Quatre Nocturnes verwendete.

Ganz versteckt hören wir in Kahns hochkomplexer Musik einen volkstümlichen Tonfall. Da sind nicht nur die vielen tonalen Assonanzen in seiner atonalen Musik, Fundstücke früherer Zeiten, die aus dem Zusammenhang gerissen wurden; da ist der für Schlaf- und Wiegenlieder typische 6/8 Takt, der allerdings so langsam ist, dass er für die ausführenden Musikerinnen und Musiker schwer darstellbar und für die Hörerinnen und Hörer schwer feststellbar ist. Da sind aber auch die vielen ganz kurzen Wiederholungen in der Singstimme und im Klavier, oft nur zwei Noten oder ein einziges Intervall. Sie durchziehen das ganze Stück und erinnern von Ferne an Kinderreime mit ihren Zwei- und Dreitonsignalen (und ganz unabhängig von der hier angewandten Zwölftonmethode).

Quatre Nocturnes (1954)

Rondel
Tristan Corbière (1845 – 1875)

Schlaflied
Johann Peter Worlet (E.I. Kahn)

Les Djinns
Victor Hugo (1802 – 1885)

Elegy
Percy B. Shelley (1792 – 1822)

Für die 1954 entstandenen Quatres Nocturnes wählte Erich Itor Kahn Gedichte in den drei Sprachen, welche für ihn mit den Ländern seiner Flucht und seines Exils verbunden sind: Deutsch, Französisch und Englisch.

Die vier gross angelegten Lieder beleuchten auf unterschiedlichen Ebenen die Nacht:

  • Mit Rondel aus Les amours jaunes des bretonischen Dichters Tristan Corbière wählte Kahn einen Dichter, der damals in Deutschland im Gegensatz zu Paul Verlaine und Victor Hugo kaum bekannt war. Darin besingt der jung verstorbene Corbière die Dunkelheit als Ort des Schlafs jenseits der Schwere.
  • Schlaflied, unter dem Synonym Johann Peter Worlet auf einen Text von Kahn selbst, lehnt sich daran an: der Schlaf als rettender Ort, als traumloses Refugium, Erlösung für den, der das nächtliche Wachen dem Abgleiten in schlimme Träume vorzieht und sich nach dem Übergang aus lähmender Depression in erlösende Stille sehnt.
  • Les Djinns nach dem Gedicht von Victor Hugo ist das längste und wildeste der vier Lieder und schildert ausdrucksstark und ausufernd den Höllenritt der Djinns, welche über die nächtliche Landschaft hinwegfegen; eine farbige, enorm vitale Begleitung unterstützt die sich – gleich der Form des Gedichts – aus dem Nichts immer dramatischer ausbreitende und wieder ins Nichts verschwindende Stimme.
  • Das Gedicht Stanzas – April, 1814 des englischen Dichters Percy B. Shelley weist auf den Vertrag von Fontainebleau und die Abdankung Napoleons hin: Sterben und Vergänglichkeit stehen unausweichlich auch am Ende eines durch Macht und Gewalt geprägten Lebens.